Offener Brief an die zuständigen Ministerien aus Norwegen, Liechtenstein und der Schweiz

Schweiz, Norwegen, Liechtenstein: Schluss mit Doppelstandards! Fordern Sie von den Ländern des Südens keine strengeren Sortenschutzgesetze als die EFTA-Länder selbst umsetzen.

Sehr geehrte Ministerinnen und Minister,

In den Ländern des globalen Südens beziehen Bäuerinnen und Bauern ihr Saatgut zum größten Teil aus vielfältigen, bäuerlichen Saatgutsystemen. Diese Systeme basieren unter anderem auch auf dem Recht der Bauern und Bäuerinnen, Saatgut und anderes Vermehrungsmaterial aus der eigenen Ernte frei aufzubewahren, wiederzuverwenden, zu tauschen und zu verkaufen. Das UPOV-Übereinkommen in der Version von 1991 (UPOV 91) nimmt den Landwirten jedoch das Recht, geschütztes Saatgut oder Vermehrungsmaterial zu tauschen oder zu verkaufen. Sogar die Verwendung von Saatgut oder Vermehrungsmaterial aus dem eigenen Anbau ist für die meisten Pflanzenarten verboten, für andere ist es eingeschränkt. Auf diese Weise gefährdet UPOV 91 nicht nur das Recht auf Nahrung und die Ernährungssouveränität, sondern auch die agrarbiologische Vielfalt. Die Sortenvielfalt, in Genbanken gespeichert und auf Feldern und in Gärten auf der ganzen Welt angebaut, stellt jedoch eine unverzichtbare Ressource für die Züchtung neuer Nutzpflanzen dar. Sie ist auf funktionierende bäuerliche Saatgutsysteme angewiesen. Wenn wir diese Systeme zerstören, schaden wir der Menschheit als Ganzes. In den letzten Jahren haben zahlreiche Berichte und Studien1 die Gefahren unangemessener Sortenschutzgesetze aufgezeigt.

Seit vielen Jahren zwingen die EFTA-Staaten (Schweiz, Norwegen, Liechtenstein und Island) Entwicklungsländer durch Freihandelsabkommen (FHA) zur Annahme von Sortenschutzgesetzen in Übereinstimmung mit UPOV 91. Folgende Länder wurden so verpflichtet, UPOV 91 beizutreten oder Gesetze im Einklang mit UPOV 91 zu verabschieden: Marokko (Freihandelsabkommen 1999), Jordanien (2002), Libanon (2007), Ägypten (2008), die zentralamerikanischen Staaten (2014) und Indonesien (2018). Weitere Freihandelsabkommen werden derzeit verhandelt, die ebenfalls die Forderung nach UPOV enthalten.

Paradoxerweise haben sich die Schweiz, Norwegen und Liechtenstein dafür entschieden, die Anforderungen von UPOV 91 in ihren eigenen nationalen Gesetzen nicht zu erfüllen. Im Jahr 2005 lehnte die norwegische Regierung einen Vorschlag für eine UPOV 91-Mitgliedschaft ab und entschied, die bestehenden Rechte der Landwirte zur Verwendung von Nachbausaatgut und Vermehrungsmaterial beizubehalten. Das schweizerische Sortenschutzgesetz erlaubt die Verwendung von Nachbausaatgut für verschiedene Kulturpflanzen wie Weizen oder Kartoffeln ohne jegliche Begrenzung oder Lizenzzahlung. Dies war ein Hauptanliegen der Landwirte, als das Gesetz im Parlament verhandelt wurde. Obwohl die Schweiz UPOV 91 ratifiziert hat, entspricht ihr Sortenschutzgesetz somit nicht den Anforderungen von UPOV 91. Ein solches Gesetz würde jeden neuen Kandidaten am Beitritt zu UPOV hindern. Liechtenstein hat überhaupt kein Sortenschutzgesetz und ist nicht Mitglied von UPOV. Damit hat Liechtenstein die entsprechenden Artikel aus den Freihandelsabkommen, die es in den letzten 20 Jahren unterzeichnet hat, nicht respektiert.

Von Entwicklungsländern Gesetze zu verlangen, die von Ihnen selbst als unangemessen angesehen werden, ist heuchlerisch und ungerecht. Dies umso mehr, als die Rechte der Bäuerinnen und Bauern für die Ernährungssicherheit in den Ländern des globalen Südens noch wichtiger sind als in der Schweiz, Norwegen oder Liechtenstein. Diesen Ländern Gesetze aufzuzwingen, die überdies ohne ihre Beteiligung ausgehandelt wurden, ist ein neokoloniales Diktat, das den Interessen der Bevölkerung dieser Länder zuwiderläuft. Die Länder haben das Recht und die Pflicht, Gesetze und Politiken in Bezug auf Saatgut zu entwickeln, die ihrem landwirtschaftlichen System und den Bedürfnissen ihrer Bevölkerung angepasst sind. Dies sollte unter Berücksichtigung des im Internationalen Saatgut-Vertrag der FAO festgehaltenen Bauernrechts auf Beteiligung an Entscheidungsprozessen erfolgen. Es ist besorgniserregend, dass die reichen EFTA-Länder den Freiraum insbesondere ärmerer Entwicklungsländer einschränken, maßgeschneiderte Gesetze zu entwickeln und die Flexibilitäten zu nutzen, die das Übereinkommen der Welthandelsorganisation über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) bietet.

Aus all diesen Gründen fordern wir Sie dringend auf, jegliche Forderungen nach UPOV 91-kompatiblen Sortenschutzgesetzen aus Ihren Verhandlungsmandaten für künftige Freihandelsabkommen zu streichen. Dies wäre ein wichtiger Schritt zu mehr Gerechtigkeit und ein bedeutender Beitrag zur Erreichung der Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung.

Erstunterzeichner:

  • Alliance Sud (Switzerland)
  • Brot für Alle (Switzerland)
  • Consumers’ Association of Penang (Malaysia)
  • Development Fund (Norway)
  • Fastenopfer (Switzerland)
  • Grain (International)
  • HEKS (Switzerland)
  • Indonesia for Global Justice – IGJ (Indonesia)
  • Liechtensteinische Gesellschaft für Umweltschutz (Liechtenstein)
  • Public Eye (Switzerland)
  • Sahabat Alam Malaysia (Friends of the Earth, Malaysia)
  • Swissaid (Switzerland)
  • Tellerrand – Verein für solidarisches Handeln (Liechtenstein)
  • Third World Network (Malaysia)
  • APBREBES (International)

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1 Siehe zum Beispiel: Agriculture development, food security and nutrition: report of the Secretary-General 2015; or The right to food Seed policies and the right to food: enhancing agrobiodiversity and encouraging innovation – a report by  the UN Special Rapporteur on the Right to Food, Olivier De Schutter; or Plant Variety Protection in Developing Countries: A Tool for Designing a Sui Generis Plant Variety Protection System: An Alternative to UPOV 1991 by Carlos Correa, or OWNING SEEDS, ACCESSING FOOD – a human rights impact assessment of UPOV 1991 based on case studies in Kenya, Peru and the Philippines.

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